Wie auch schon in den vergangenen Jahren begingen wir am 1. September 2020 in Mariä Himmelfahrt unseren Gedenkgottesdienst für die Opfer von Krieg, Terror und Gewalt.
Narben des Krieges
75 Jahre danach
Dieses Jahr gedachten wir besonders der Opfer in unserer Gemeinde. Zu Beginn nahm uns Frau A. Polten auf eine Zeitreise mit. Diese startete im Jahre 1943. Hierzu hatte der Liturgieausschuss Originalbilder des Abschusses unseres Kirchturms und ein Original-Dokument von Pfarrer May, der zu dieser Zeit unsere Gemeinde betreute. Dieses schilderte sehr eindrucksvoll die Ängste und das Ausmaß der Zerstörung sowie die zu beklagenden Toten. Hier ein paar Eindrücke:
- 1943
In derNacht vom 4. auf den 5. Oktober erleben wir hier einen der schwersten Fliegerangriffe auf Frankfurt. Bisher blieben wir hier unbehelligt, aber 2 Kinder, Geschwister 4 und 5 Jahre alt, mussten sterben. - Anfang 1944
Ob es das dunkelste werden wird in Griesheims Geschichte im Angesicht meiner Seelsorge: Mir bangt vor diesem Jahr: Doch wir gehen mit Gott. Der 29. Januar schlägt blutige Wunden: Schwerer Fliegerangriff auf Frankfurt. 2 meiner Pfarrkinder erschlagen. Neue Angriffe folgen. Wir bleiben unbehelligt. Aber die Gefahr wir drohender. - 18. März 1944
Großfeuer in Griesheim, Angriff des Feindes auf Frankfurt. 2 Häuser vor unserer Kirche schwarz: Großbrand: Die Lohe schlägt über das Dach; eine Brandbome in das Dach der Sakristei, aber die Feuerwache griff ein. Das Gotteshaus blieb. Am Bahnhof eine große Sprengladung. Ein Pflasterstein im Gewicht von 12 Pfund sauste durch das Dach des Pfarrhauses und durchschlug es. - 22. März 1944
Abends Viertel nach 9 Uhr: Die Hölle über Frankfurt und meiner Gemeinde. Kurz nach dem Alarm ging ein Bombenregen auf meine neue Gemeinde herunter.Griesheim in Flammen, in Rauch- und Brandwolkeb schon 3/4 Stunde lang. Es war entsetzliche im Luftschutzkeller. Etwa 70 m vor uns schlagen Minen ein. 15 Häuser brennen, unser Schwesternhaus blieb neben den Trümmerhäusern stehen, aber es musste geräumt werden, ist z. Zt. unbenutzbar. Unser Gotteshaus ohne Fenster, mit zerschlagenen Türen und der Wind pfeift durch die Halle. Dort feiern wir das heilige Opfer: eine Stätte der Verwüstung. Das Dach der Kirche wurde von 2 Brandbomben durchschlagen, aber sice richteten keinen Schaden an. Das Pfarrhaus, dieser schöne Bau, war noch mit zerrissenen Fenstern und Türen. Wir hausen in 3-4 Räumen. Als ich in der Woche aus dem gefährdeten Schwesternhaus das Allerheiligste holte, konnte ich fast nicht durch die Straßen vor ätzendem Rauch und einstürzenden Mauern.Furchtbar mitgenommen: Die Waldschulstraße, die Siedlung Lindenhag an der Eisenbahnstätte am Rebstock, der Anfang der Hartmannsweilerstraße und der Wingertsgrund.34 Todesofer in Griesheim: betroffen alle Altersgruppen: von Kindern bis ins hohe Alter.Frankfurt ist nicht mehr. Aber viele meiner Pfarrkinder sind heimatlos und mittellos geworden. Es war für mich bitter: Meinen Pfarrkindern zu begegnen und immer wieder hören zu müssen: Wir haben nichts, fast nichts retten können. Meine Gemeinde ist zerschlagen: Viele sind fort von hier. Selbst wenn kein weiterer Angiff käme, stünde ich als Seelsorger vor einem Trümmerfeld: Keine Kinder, die Jugend hat kein Heim mehr im Josefshaus, die Gemeinde kann ich nicht mehr sammeln: Jung und Alt nicht mehr. Und gerade deswegen war ich doch hierher in dieses gefährdete Gebiet gegangen.
Soweit die Schilderungen von Pfarrer May. Nicht nur äußere Zerstörungen wurden erlebt, es gab auch innere Narben und Verletzungen:
– Verlust von Familienangehörigen, Freunde, Nachbarn
– Verlust der Heimat bzw. des Zuhauses
Was hat der 2. Weltkrieg allgemein an Narben hinterlassen:
- Menschenverluste / Kriegsopfer, hier sei nur an die unvorstellbare Zahl von 60 – 65 Millionen erinnert
- Traumata bei vielen Menschen
- ein geteiltes Deutschland bzw. Europa
- zerstörte Städte
- mutige Menschen wie Pfr. Delp, Dietrich Bonhoeffer wurden hingerichtet (wir gedenken Ihrer zum 75. Todesjahr)
In den Fürbitten wurden diese von M. Kottemer noch einmal zur Erinnerung gebracht und für Toleranz und Anerkennung jedes Andersseins gebetet. Auch für eine gewaltfreie Lösung von Konflikten wurde ebenso gebetet, wie für die Mächtigen der Welt, dass nicht übergroßer Reichtum diese Welt lebenswert macht.
In seiner Predigt griff Pfarrer Rolf Glaser das Thema
Narben des Krieges – 75 Jahre danach
noch einmal auf:
Narben – sie sind erst einmal Hinweise auf etwas Unheilvolles! Verletzungen! Und sie können weiterhin Warnsignale sein, Zeichen für ein Risiko! Dann, wenn sie noch nicht richtig verheilt sind! Dann, wenn sie nicht richtig behandelt werden!
Das gilt im physischen Sinne. Das gilt auch im übertragenen Sinne. Dann, wenn sie wieder aufzubrechen drohen! Denken wir an Nordirland, diesen jahrzehntelangen Konflikt! Die Mütter, die damals gegen diesen Bürgerkrieg aufgestanden sind und die Opfer ihrer Kinde beklagt haben. Was wird dort geschehen, wenn es infolge des Brexit wieder eine Grenze gibt? Es gibt viele solcher Beispiele, dass Narben nur oberflächlich verheilt sind und jederzeit wieder aufbrechen können. Auch in unserem Land. Wie hat Berthold Brecht nach dem zweiten Weltkrieg gesagt. „Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer.“
Als katholischer Vorsitzender der jüdisch-christlichen Gesellschaft stimmt es mich traurig, dass sich Juden in unserem Land zunehmend wieder unsicher fühlen, nicht wenige sogar ausreisen oder ausreisen wollen. Pegida, die Reichkriegsflagge auf den Stufen des Reichstages! Und eine Fahne dort habe ich mit besonderem Abscheu wahrgenommen. Eine schwarze Fahne mit dem eisernen Kreuz darauf und der Aufschrift „Gott mit uns!“ Noch einmal Bert Brecht: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch! Das gilt leider auch noch 75 Jahre danach!
Sicher, die Bundesrepublik Deutschland ist nicht Weimar-. Aber wachsam zu sein, gilt es allemal! Und schlimm finde ich, wenn durchgeknallte Corona-Gegner die Beteiligung von Nazis hinnehmen oder gar begrüßen. Ja, Narben gilt es sorgsam zu beobachten!
Aber viele wichtiger ist: Narben sind Zeichen eines Heilungsprozesses. Sie zeigen: Wunden sind verheilt! Es gilt diese heilenden Kräfte zu stärken. Und das ist für uns Christen eine unvertretbare Aufgabe! Es gilt unsere christliche Botschaft unter das Volk zu bringen! Und es kommt darauf an, danach zu leben! Nachfolge! Es ist wichtig, die christliche Botschaft auch in eine nichtchristliche Kultur zu „übersetzen“, damit auch die sie verstehen, die heute selbst keine christliche Biographie mehr vorweisen.
Da ist die Würde des Menschen, die jedem gilt und die für Juden wie Christen ihren tiefsten Grund in der Gottebenbildlichkeit des Menschen findet: „nach seinem Bilde schuf er ihn!“ Da ist die Botschaft Jesu: „Ich bin gekommen um zu heilen, was verwundet ist“. Das ist sein Opfer, das er ein für allemal dargebracht hat. Der holländische Katechismus sagt dazu“ Wir können dieses Opfer feiern, denn in ihm sind alle Opfer beendet.“ Das ist eine Prophetische, eine eschatologische Aussage. Sie verlangt noch nach ihrer Verwirklichung in der Geschichte der Menschheit. Denn wir wissen nur zu gut: immer noch gibt es Menschenopfer! Das Opfer Jesu ist ein Protest dagegen – zu allen Zeiten! Dass Eintreten für Toleranz und Respekt allen Menschen gegenüber ist und bleibt deshalb Verpflichtung der Christen. Als Kirche sind wir dazu unterwegs, als Kirche aus allen Völkern und um Heilszeichen für die Menschheit zu sein. Grundsakrament. Alle Sakramente sind darauf bezogen. Sie sind Symbole die Hoffnung und Zuversicht freisetzen, besonders das Sakrament der Eucharistie: „Wunden sollen heilen unsere Not wird gut, singen wir in einem Kirchenlied.“
Heilszeichen sollen wir auch als Gemeinde vor Ort sein und wir sind es auch! Das Hedwigsforum hat den Auftrag, Verbindung zu schaffen mit anderen Ländern und anderen Kirchen, besonders in Osteuropa, wo die Wunden des 2. Weltkrieges vielerorts noch nicht richtig vernarbt sind. Die „Internationalen Tage der Begegnung“, die wir dreimal begangen haben, waren ein beredter Ausdruck davon. Auch unser soziales und diakonisches Handeln gehört hierher. Das Hilfenetz, die Sozialberatung, aktuell die Essensausgabe. Dies sind – vielleicht nur bescheidene –Angebote und doch wichtige Gegenzeichen, Zeichen dagegen, dass Menschen abgehängt werden und sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht beachtet fühlen. Gerade sie sind oft empfänglich für die Botschaft von Rattenfängern. Deshalb halte ich es auch für wichtig, dass Kirche dezentral aufgestellt bleibt. Überall in der Welt auch bei uns kann man erleben, dass in abgehängten Regionen zunehmend Menschen für rechte Parolen zugänglich werden;
Ob es nun die Anhänger von Trump,die von Kaszinski oder Putin oder Erdogan sind. Auch in Ost- und Nordhessen können wir das feststellen. Ebenso in abgehängten Stadtteilen in Frankfurt. Als Kirchen dürfen wir solche Trends nicht verstärken, indem auch wir uns aus der Fläche und damit von den Menschen zurückziehen!
Unsere Kindertagstätten und unsere Kinder- und Jugendarbeit versuchen, eine heilsame Atmosphäre für Kinder und Jugendliche zu schaffen, in der diese Annahme und Geborgenheit erfahren.
Kleine, aber eben keine unbedeutenden Beispiele! Das gemeinsame Ziel ist es, die heilenden Kräfte zu stärken und sich darin mit allen in unserer Gesellschaft zu verbinden, die das auch wollen. „Wunden sollen heilen, unsere Not wir gut!“ Dafür hat Jesus Christus ein für alle Mal gesorgt. Wir dürfen daran mitwirken im Hier und Heute! Amen
Frankfurt, 01 09. 20 Rolf Glaser
Am Ende des Gottesdienstes verlas Frau M. Nöll noch den Folgenden Text:
Narben
Der heutige Friedensgottesdienst hat uns vor Augen geführt:
„Was gewesen war – was heute ist – was nie mehr sein soll!“
Ja, wir fragen uns, wie können wir so eine Wiederholung verhindern, und wie können und sollen wir zum Frieden beitragen, um die Würde des Menschen zu bewahren.
Der heutige Gottesdienst, hat auch mit ihrer , bzw. unserer Geschichte zu tun.
Narben reißen auf, wenn wir all das Hören und Durchleben!
Und Erinnerungen über Verluste, Ungerechtigkeiten, Erniedrigungen, Angst, Flucht, Grausamkeiten, Hunger, Kälte, Arbeitslosigkeit, Unmenschlichkeiten, Verlust der Würde, Überlebungskämpfe, Rassismus, Verletzungen physisch wie psychisch, spürbar werden!
Narben die uns heute sagen und mahnen, so etwas dürfen wir nicht mehr zulassen, dazu müssen wir unsere ganze Kraft einsetzen.
Narben schmerzen, wenn Menschen in alte Muster verfallen, und Machtdenken die Demokratie beschädigt.
Es gibt aber auch Narben, die daran erinnern, wie es war und wie wir es bis hierhergeschafft haben. Narben die mich an mein sehnen nach Freiheit erinnern.
Narben die dankbar machen, die an kleine Geschichten erinnern, die zum Überleben geführt haben, an Gemeinschaften oder hilfsbereite Menschen erinnern, auch wenn die Situation oft aussichtslos schien.
Narben die dankbar machen, dass ich bis hierhergekommen bin, trotz allem, dankbar all diese Sinnlosigkeit und Ohnmacht überwunden zu haben und mit neuem Mut an das Gute glauben kann.
Dass Haß meine Seele nicht vergiftet hat und ich nicht verbittert bin.
Narben die trösten, dass Partner, Kinder oder Eltern überlebten, aus der Armut neue Chancen wuchsen, dass ich eingebunden war in eine gute Gemeinschaft, dass ich in dem Bewußtsein leben kann, Gott kennt meine Geschichte und meine Schmerzen. Vielleicht kann ich auch im nachhinein sagen, ich war nicht allein, da ist einer mit mir gegangen in meiner Geschichte, der hat mir Kraft, Ausdauer Hoffnung und Mut geschenkt. Er weiß wovon ich spreche, er ist die Liebe, das Leben und der Frieden, dennoch hat auch Er gelitten, wir vertrauen Ihm , dass er mit uns geht!
Am Ende des Gottesdienstes sangen wir gemeinsam – mit Abstand – vor der Kirche das Marienlob:
Dieser Gottesdienst gehört sicher zu den wichtigsten Gottesdiensten in unserer Zeit, weil wieder gerade versucht wird, das eigenständige Denken zu behindern, Verschwörungstheorien kreisen, Menschen aufgrund ihres Glaubens bzw. Herkunft bedroht werden. Seien wir wachsam.