„Menschen, die ihr wart verloren,“ so beginnt eines unserer alten Weihnachtslieder. Die christliche Tradition denkt dabei an die Verlorenheit der Menschen an die Sünde. Aber ist gibt auch andere Arten der Verlorenheit, die uns heute sehr nahekommen: „Ich fühle mich verloren!“ sagt eine Redensart oder gar „Ich bin verloren“ und meint damit Unsicherheit, Einsamkeit, Bedroht-Sein, Verletzbarkeit der eigenen Existenz. Ich meine, dass wir heutigen Menschen wieder neu einen Zugang bekommen zu dem, was Verlorenheit meint. Dieses Lebensgefühl der Verlorenheit hat in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen, nicht nur als Gefühl des Einzelnen, sondern auch als Grundstimmung ganzer Gesellschaften. Die anhaltende und sich verschärfende Umweltkrise, mit der Gefahr des „Overkills“, des Auslöschens der Menschheit, wie wir sie früher nur als Drohkulisse der Vernichtung durch einen atomaren Krieg kannten. Dazu die Krise unsere demokratischen Systeme durch populistisches, nationalistisches und autokratisches Gedankengut, rund um uns herum, aber auch bei einer nicht unbeachtlichen Minderheit hier in Deutschland. Dazu kommt die seit März verstärkt wahrgenommene Pandemie, die sich in der zweiten Welle verstärkt hat und schließlich auch ihren dunklen Schatten auf unser Weihnachtsfest wirft. Vergessen wir dabei nicht, diese Schatten sind für viel Teile der Menschheit noch weit bedrohlicher und bedrückender als wir sie empfinden mögen. Corona! Sie setzt dem Fass die Krone auf! Viele Gewissheiten sind plötzlich erschüttert und nicht mehr selbstverständlich. Die Erlebnisgesellschaft, die Konsumgesellschaft in der Krise!
Orientierungskrise auch in den Kirchen! Am geringsten noch die Frage: Sollen wir nun real Gottdienst feiern oder doch lieber nicht? Was können wir in dieser Situation erhoffen, von diesem Weihnachtsfest, von diesem Gottesdienst, zu dem wir gekommen sind, weil wir irgendwo mit unserer Unsicherheit, mit unserer Sorge, mit unseren Ängsten, aber auch mit unserer vielleicht noch so vagen Hoffnung bleiben wollen, bleiben müssen.
Verlorenheit! Gepaart mit der Hoffnung, dass es doch so etwas wie eine Zuflucht geben könnte! Deshalb sind wir heute hier! Nicht weil wir glauben, dass Gottesdienst so etwas ist wie ein Dessert ist, auf das man auch mal gut verzichten kann, sondern weil wir darauf vertrauen, dass wir in der gemeinsamen Feier Trost finden, Zuversicht bekommen, Antworten finden.
Was aber kann eine Antwort sein?
Verlorenheit! Dieses Stichwort finden wir noch in einem weiteren Weihnachtslied! „Zu Bethlehem geboren im Stall ein Kindelein, gibt sich für uns verloren: gelobet muss es sein.“ Das Kind, das sich verloren gibt! „Elend, nackt und bloß in einem Krippelein!“ „Niedrig und gering!“ Wenn wir diese Aussagen unserer alten Weihnachtslieder nicht nur zum Aufhänger unserer Sentimentalität, unseres weihnachtlichen Wohlgefühls machen, dann finden wir hier die Antwort! Sie führen uns nämlich zu einem Blickwechsel! Gott tritt in unser Leben! Er teilt unsere Verlorenheit und verändert damit die Perspektive grundlegend. Da, wo Gott sich verloren gibt, da verändert sich unsere Verlorenheit von Grund auf. Da bekommt unser Elend plötzlich die Aussicht auf Geborgenheit. Wo Gott nackt im Stall liegt, da gibt e dieser Nacktheit Sinn und Bedeutung, da brauchen wir uns unserer Nacktheit nicht länger zu schämen, da können wir zu unseren Blößen stehen. Gott geht an unserer Einsamkeit, am Bedroht-Sein unseres Lebens, an unserer Verletzbarkeit nicht vorbei, sondern er teilt sie! Er sagt uns damit, dieses Leben, selbst da, wo es auf seine pure Nacktheit zurückgeworfen ist, hat seine unverlierbare Qualität. Es ist nicht ohne Hoffnung! Vielmehr gibt es Hoffnung mitten in der Krise, mitten in der Gefahr. Weil ich bei Euch bin! Weil ich Euch zeige: Ihr könnt dieses Leben leben, weil ich es auch lebe, mit Euch lebe! Weil ich Euch zeige, wie ihr es leben könnt, in all seiner Verwundbarkeit, in all seiner Gebrechlichkeit!
Was folgt daraus? „Menschen, die ihr ward verloren lebet auf, erfreuet euch“. Menschen, die zur Nacktheit des Lebens, zu seiner Verletzlichkeit und Endlichkeit stehen können, gewinnen eine neue Perspektive für das Leben. Sie können in der Rückbesinnung auf die Einfachheit, Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens und durch deren Bejahung einen neuen Lebenssinn erkennen. Sie können einen neuen Lebensstil finden, den wir so dringend brauchen, wenn wir die Krisen unserer Zeit bewältigen wollen. Sie können eine Antwort darauf finden und vor allem: Sie können diese Antwort leben.
Der Philosoph Otfried Höffe schrieb unlängst in der FAZ[1] in einem Essay: „Will die moderne Zivilisation menschenwürdig überleben, benötigt sie ein erhebliches Maß sowohl an persönlicher als auch an einer wirtschaftlich- und gesellschaftlichen, nicht zuletzt an einer globalen Besonnenheit.“ Der Gott, der sich an uns verloren gibt, macht uns dazu Mut. Die Engel künden es an diesem Weihnachtsfest aus Neue: „Fürchtet euch nicht!“
Rolf Glaser
[1] Ottfried Höffe „Mit Leichtigkeit und Heiterkeit des Herzens“, FAZ, 30. 11. 20, S.6