Predigt zum Heiligen Abend 2020

Er behält den Kontakt zu uns, er rührt uns an!

1. Das Zeichen der Zeit: Distanz

Liebe Schwestern und Brüder, schön, dass Sie den weg heute Abend hierher gegangen sind; trotz dieser Lage, die wir im Moment haben. Jedes Jahr hat ein „Wort“ oder „Unwort“ des Jahres, ein Zeichen oder ein Symbol das ausdrückt, wie das Jahr für ihn so war. Auch ich habe das. Es ist dieser Stock (Zeigt den „Abstandsstock“). Diese Stange hat der Küster extra für uns hier angefertigt. Er ist genau 1, 5 m lang. Wir haben ihn in dieser Adventszeit schon oft gebraucht, um Distanz herzustellen. Als wir für das Turmblasen aufgebaut haben, beim Üben für das Krippenspiel und bei vielem anderen haben wir damit Distanz hergestellt.

Und somit steht dieser Stab für das, was im Moment überall angesagt ist: Distanz, Kontaktbeschränkung. Das Vermeiden von Nähe. Um uns vor diesem Virus zu schützen, ist das einfach nötig – und so traurig. Geschäfte und Gastronomie haben geschlossen, so manch einer fürchtet um seine Existenz. Kranke und Alte dürfen nicht besucht werden, viele müssen sterben.

Diese Distanz beschäftigt uns. Wie sehr fehlen uns das Umarmen, das Händeschütteln, die Begegnungen, das Miteinander Lachen und Weinen. Gerade an Weihnachten. Weihnachten ist ja für viele gerade das Fest der Nähe. Eine Nähe, die Geborgenheit schafft. Wie sehr vermissen wir das in diesem Jahr; der Stock, den ich in der Hand halte, könnte auch für eine Schranke stehen, die uns voneinander trennt.

2. Die Botschaft von Weihnachten: Gottes Nähe

Die Frage, wie Gott aussieht, wie er ist, warum er etwas tut ist eine Grundfrage aller Menschen, auch der Christen. Gerade jetzt in Zeiten der Pandemie. Warum lässt Gott das zu? Diese ewige Frage der Menschheit stellen uns jetzt viele. Niemand kann das wissen. Ich glaube nicht, dass Gott uns Krankheiten als Strafe schickt oder als pädagogisches Mittel, um die Menschen auf die Spur zu bringen. So ist der Gott nicht, der uns in der Bibel begegnet, erst recht nicht der, von dem wir heute in dieser Nacht gehört haben. Denn was wir heute über Gott erfahren können ist das: Er ist kein Gott der Distanz. Er ist ein Gott der absoluten Nähe. Viele haben eine Vorstellung von einem Gott, der ganz weit weg ist und sich in Schweigen hüllt. Aber die Weihnachtsgeschichte spricht vom Gegenteil. Auch vor 2000 Jahren war die Welt mitnichten in Ordnung. Da war das Volk Israel, das militärisch unterdrückt und unfrei war, beherrscht im Land selbst von Besatzern und einer reichen Oligarchie. Da war eine große Schicht von Armen Menschen, die um ihr tägliches Überleben kämpfen musste. Epidemien waren nicht selten und noch gefährlicher als heute. Es war eine Zeit, die sich nach einem Erlöser sehnte.

Zu diesen Menschen, die in einfachen Verhältnissen lebten, gehörten Maria und Josef. Politischer Zwang hatte sie nach Bethlehem gebracht. In einem dreckigen Stall mit Vieh drin brachten sie Jesus auf die Welt. Die ersten Besucher, die kamen, waren die „Outlaws“ der damaligen Zeit: Einfache Hirten.

Was für eine Kontaktaufnahme Gottes zu den Menschen! Er begibt sich ganz nah zu ihnen: Nicht als ein Starker Superstar, der vom Himmel herabgebeamt wird – als kleines Baby armer Leute ist er da, berührbar, klein, verletzlich.

Gottes Kontaktaufnahme gilt zuallererst den Schwachen. Er ist einer von ihnen, er wird sein ganzes Leben einer von ihnen bleiben. Und diese Kontaktaufnahme erfolgte damals ganz ohne Kontaktbeschränkungen, ganz unmittelbar, ganz direkt. Wenn wir Christen doch eines von Gott wissen können, dann ist es doch das: Er ist ein Gott, der sich ganz in die Nähe der Menschen begibt, besonders in die Nähe derjenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Maria, Josef und die Hirten haben diese Berührung Gottes verstanden. Von Maria haben wir eben gehört, wie sie in ihrem Herzen bewegt war. Das Leben nach dieser Berührung hat sich weder für Maria, Josef oder die Hirten erst einmal verändert. Maria und Josef haben ein Flüchtlingsschicksal vor sich, die Hirten müssen wieder auf ihr Feld. Und dennoch glaube ich: Gottes Kontaktaufnahme, seine Berührung hat sie verändert. Sie haben gespürt: Sie sind nicht alleine, Gott schenkt ihnen die Hoffnung, dass alles gut ausgehen kann.

3. Gott will auch heute zu uns Kontakt aufnehmen, uns berühren – damit wir die Welt verändern

Und heute? Wir feiern ein sehr kontaktloses Weihnachtsfest, aber ist es auch wirklich berührungslos? Denn auch in diesem Jahr will Gott uns mit uns Kontakt aufnehmen – ganz ohne 1,5 m Sicherheitsabstand, ganz ohne Distanz. Er will unsere Herzen ganz tief anrühren.

Als wir das letzte Mal unsere Blasmusik im Advent samstagabends hatten, passierte etwas mit mir. Beim Lied „Tochter Zion“ habe ich Tränen in meinen Augen gespürt. All die Jahre vorher ist mir das nie passiert, aber dieses mal hatte mich diese weihnachtliche Musik ins Herz getroffen, ja berührt. Mir ist bewusst geworden: Ich habe dieses Jahr nicht oft irgendwelche Weihnachtsmusik zu hören bekommen. Sonst läuft die ja auf Weihnachtsmärkten, Supermärkten und Feiern überall rauf und runter. Das war dieses Jahr nicht so – und so hat sich dieses Gefühl von Weihnachten, das Gefühl von Gottes Nähe und die Freude darüber ganz unmittelbar in mir ausgebreitet. Vielleicht war das ein Zeichen von Gottes zarter Berührung in diesem Jahr für mich.

Ich glaube: Wir brauchen diese Berührung Gottes in diesem Jahr ganz besonders. Denn Gottes Berührung ist niemals folgenlos. Wir brauchen sie für uns selbst. Wer sich darauf einlässt, sich von Gott berühren zu lassen kann spüren: Ich bin nicht allein in dieser Zeit der Traurigkeit und der Distanz. Wer sich von Gott berühren lässt, wird nicht von jetzt auf gleich verändert, es verschwinden nicht alle Sorgen und Ängste. Aber ich bin mir sicher: Wer von Gott berührt ist, der hat Hoffnung, der hat Kraft, die nächsten Monate mit Optimismus und Zuversicht anzugehen.

Ich glaube noch mehr: Unsere Welt braucht von Gott berührte Menschen. Menschen, die die Zuversicht nicht verlieren und die dort anpacken, wo es nötig ist. Ich habe diese Menschen hier bei uns schon erlebt: Da ist der Gastwirt, der schon seit Monaten für arme Menschen hier im Josefshaus kocht. Da ist die Frau, die beständig unsere alten und kranken Menschen anruft um sie spüren zu lassen: du bist nicht allein, du bist nicht vergessen. Da sind die Menschen, die sich unermüdlich für mehr Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt einsetzen, gerade jetzt, wo das Thema der Pandemie alles andere an Unfrieden und Unterdrückung in den Hintergrund drängt.

4. Die Chance ergreifen!

Vielleicht ist dieses Jahr sogar die Chance, Weihnachten ganz neu zu begreifen. Ohne den viele Rummel drum herum wird vielleicht deutlich, was an diesem Fest uns wirklich wichtig ist. Oder anders herum: Wir merken auch an dem, was uns fehlt, was uns wirklich etwas bedeutet. Und vielleicht ist diese Konzentration auf das Wesentliche die Chance, Gottes Berührung zu spüren und sie in uns aufzunehmen.

In diesem Sinne wünsche ich ihnen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest in diesem Jahr. Ihnen, und besonders den Menschen, zu denen Sie in Distanz leben müssen. Übrigens: Das Wort „lost“ ist das Jugendwort des Jahres 2020 geworden. Es heißt so viel wie „verloren“ oder „sinnlos“. Gleich hören wir am Ende dieses Gottesdienstes das Lied „Oh Du fröhliche“. Da heißt es: „Welt ging verloren, Christ ist geboren.“ Die Welt ist manchmal „lost“, aber Christus ist heute geboren, um sie zu retten. Freue Dich Du Christenheit!

Rolf Müller