Lebendige Briefe
Predigt vom 14.06.2020

„In jener Zeit, als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; den sie waren müde und erschöpft, wie Schafe, die keinen Hirten haben.“

Liebe Schwestern und Brüder, das sind Worte, die anrühren! Indessen ist es kein lyrischer Text, sondern es ist eine harte Zustandsbeschreibung. Als Matthäus sein Evangelium schreibt, ist gerade der jüdische Krieg zu Ende. Jerusalem ist zerstört, die Festung Massada nach langjähriger Belagerung durch die Römer gefallen. Das Volk liegt am Boden, Elend breitet sich aus, Krankheiten grassieren. Ist doch Krankheit die Schwester der Armut! – Vor diesem Hintergrund erinnert sich Matthäus an die Zuwendung Jesu zu den Armen und Kranken. Das trifft mitten in die Situation, die Matthäus selbst miterleben muss. Typisch für Matthäus sind  dabei seine „Summarien“, Texte, in denen er vom Wirken Jesu berichtet und gleichzeitig die Situation des Volkes beschreibt.

Hierhin gehört unser heutiges Evangelium. Bevor unser heutiges Textabschnitt beginnt, heißt es zuvor: „Jesus zog durch alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und heilte alle Krankheiten und Leiden (V.35).“(leider aus dem Lesungstext herausgeschnitten!) Um die Situation bildhaft zu beschreiben, bezieht sich Matthäus auf die alten Propheten, Jeremia und Ezechiel. Bei ihnen findet sich das Bild von den schlechten Hirten  (Ez 34,4) und dem Volk, dessen Glieder „niedergeworfen durch Schwert und Hunger in den Gassen Jerusalems liegen“ (Jer 14,16). Jeder gebildete Jude kennt diese Texte und versteht, was Matthäus damit zum Ausdruck bringen will.

Und mitten in diese Elendssituation platziert Jesu nun die Berufung der Apostel. Als Arbeiter schickt er sie in die Ernte und gibt ihnen Vollmacht die „unreinen Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen! In diesem Heilshandeln der Jünger soll denen Menschen das Himmelreich nahekommen. In Israel soll das Ganze seine  Anfang und Ausgangspunkt nehmen. Deshalb sollen sich die Jünger auf die verlorenen Schafe des Hauses Israel konzentrieren. Das Gottesvolk soll gesammelt werden, deshalb 12 Apostel, die zu den „12 Stämmen Israels“, also zum ganzen Volk gesendet werden. Eine große Sammlungsbewegung des elenden Volkes, die durch persönliche Gesandte geschieht. So, wie Jesus durch seine Person gewirkt hat, so sollen auch die Apostel durch ihr persönliches Auftreten und Handeln wirken.

Kardinal Marx hat bei der Weihe des neuen Bischofs von Augsburg eine bemerkenswerte Predigt gehalten.- Es sagte sinngemäß: Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, das von Jesus kein einziger Brief erhalten ist? Konnte er nicht lesen und schreiben? – Natürlich konnte er das! Hat er doch in der Synagoge vorgelesen! Warum ist dann kein Schriftstück von ihm erhalten? Weil es ihm wichtig war, selbst zu den Menschen zu gehen! Weil die Verkündigung in seiner Person geschah. Verkündigung geschieht real! Umgekehrt, Paulus wusste sehr wohl das Kommunikationsmittel der damaligen Zeit zu nutzen und einzusetzen: den Brief: 13 Episteln werden mit seinem Namen verbunden, 7 davon hat er selbst geschrieben und sie alle gehören heute zum kostbaren Bestand des neuen Testamentes. Und doch schreibt er im 1. Korintherbrief: „ unser Empfehlungsschreiben seid ihr; es ist eingeschrieben in unser Herz und alle Menschen können es lesen und verstehen. Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unserem Dienst, geschrieben nicht  mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln von Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch.

Liebe Schwestern und Brüder, im „lock down“ war uns das Internet eine wertvolle Hilfe und manches, was wir gelernt haben, wird bleiben und weiterentwickelt: Die online-Gottesdienste für Kinder, die Kirchentagbücher, die Gottesdienste und Liturgien, die wir gestreamt haben. Nur – und das ist wirklich meine große Sorge – es darf uns nicht dazu verleiten zu übersehen, dass wir Kirche nur real sein können, dass Nachfolge nur real gelebt werden kann, das wir auch nur real Eucharistie feiern können. Es geht nur mit den Briefen, die in Herzen eingeschrieben werden können. Nicht nur mit Tinte! Nicht nur EDV-gestützt, nicht nur online!

Dies alles ist gut und wichtig, solange wir verstehen, dass wir es sind, unvertretbar in unserer Person, die Christus senden will; dass es darauf ankommt, dass Menschen zu Menschen gehen. Nachfolge braucht Nachfolger, nicht nur virtuell, sondern real.

Bischof Bätzing sagte in seiner Fronleichnamspredigt:

„In den Wochen des Verzichts haben wir freilich auch die Bedeutung der „Körperlichkeit“ für den Leib Christi neu entdeckt. Kirche und Eucharistie sind keine rein geistig-geistlichen Wirklichkeiten. Der Herrenleib lässt sich nicht nur virtuell in der Welt realisieren.  Kirche ist Gemeinschaft des Glaubens, die sich um das Wort Gottes versammelt und Eucharistie feiert. Diese „körperbasierte Form der Frömmigkeit“ sei für die katholische Kirche wesentlich, hat der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück zu Recht bemerkt. Darum könne er das allzu euphorische Lob der digitalen Möglichkeiten nicht teilen. ‚Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe am Leib Christi?‘ (1 Kor 10,16) fragt Paulus markant und unterstreicht die enge Beziehung zwischen der konkreten Begegnung von Gläubigen miteinander und mit dem Herrn in der Eucharistiefeier und ihre Verbundenheit im Leib der Kirche.

Seien wir also real diese Liebe Christi, gehen wir real als Gesandte Christi zu denen Menschen, die heute hier und weltweit – gerade auch durch diese Krise -„erschöpft sind und daniederliegen“. Lassen wir sie real und nicht nur digital spüren, dass ihnen das Reich Gottes nahe ist, dass Gott ihnen nahe ist dadurch, dass wir ihnen nahe sind, dass wir mit unserer Person für das Evangelium einstehen. Amen!

Pfarrer Rolf Glaser