Das Wochenwort 15

Der europäische Kuss – Ein Todeskuss?

 

Das heutige Wochenwort kommt von:

Pfarrer Rolf Glaser

20. September 2020

 

Der europäische Kuss – Ein Todeskuss?

Verstörend sind die Bilder und Nachrichten aus dem Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Der Brand hat die untragbaren Zustände dort noch verschärft. Schon vor dem Brand hat Entwicklungsminister Müller gegenüber der Tagesschau geäußert: „“Das ist kein Flüchtlingscamp, das ist ein Gefängnis. Flüchtlinge werden eingepfercht wie Verbrecher“. Nun geht er in den Ruhestand. Ob das wirklich nur dem Alter geschuldet ist? Er wollte 2000 Flüchtlinge aus dem Camp in Deutschland aufnehmen. Zahlreiche Kommunen wären dazu bereit. Auf der Linie seiner bayrischen CSU und von Innenminister Seehofer lag er mit besagter Äußerung jedenfalls nicht. Nur eine symbolische Zahl ist Deutschland bisher bereit aufzunehmen. Fraglich ist dabei, ob diese aus Lesbos kommen oder ob Griechenland seine Flüchtlinge auf dem Festland in aufnahmebereite Länder weiterreichen will. Verstörend sind die Reaktionen oder besser Nichtreaktionen der europäischen Politik. Europa und seine Mitgliedstaaten schieben die Verantwortung hin und her. Man will keine Anreize dafür schaffen, dass neue Flüchtlinge den Weg nach Europa suchen. Deshalb werden die 13.000 Menschen auf Lesbos in Geiselhaft genommen und leben weiter unter menschenunwürdigen Zuständen.

In diesem Jahr feiern wir den 250. Geburtstag des Vaters der Europahymne, Ludwig von Beethoven. In Berlin wurde seine 9. Symphonie in beeindruckender Weise aufgeführt. „Diesen Kuss der ganzen Welt!“ heißt es in der „Ode an die Freude“, dem Finale der Symphonie, mit dem Text von Friedrich Schiller. Was ist das für ein Kuss, den Europa der Menschheit, den Menschen in Moria, zu geben bereit ist?

Es darf kein „Todeskuss“ sein! Wenn Europa als „Europa der Werte und der Menschenrechte“ versagt, dann ist das ein Todeskuss, nicht nur für viele Menschen, sondern, davon bin ich fest überzeugt, für Europa selbst. Seine Flüchtlingspolitik ist dafür die Nagelprobe. Ein Europa, das seine Werte verrät, wäre nicht zukunftsfähig. Setzen wir uns dafür ein, dass der Kuss, den Europa der Welt zu geben bereit ist, ein Kuss der Beherztheit und der Solidarität ist!

Die katholische Friedensbewegung Pax Christi hat einen Aufruf gestartet. „Kein Weihnachten in Moria“. Sie finden ihn im Internetauftritt des Hedwigsforum und der Gemeinden Mariae Himmelfahrt und St. Markus. Es geht darum, einen Brief an die Bundestagsabgeordneten in Hessen zu schreiben, dass sie sich dafür einsetzen, dass die Flüchtlinge von Moria nicht auch das Weihnachtsfest unter menschenunwürdigen Bedingungen begehen müssen. Machen Sie mit! Werden Sie Teil der Bewegung! Schreiben Sie Ihren Abgeordneten!

»Weihnachten ist kalendarisch am 24./25. Dezember.
Das wirkliche Weihnachten ist in diesen Zeiten dann, wenn Flüchtlinge gerettet werden.
Das wirkliche Weihnachten ist dann, wenn Flüchtlingskinder wieder sprechen, spielen und essen.
Das wirkliche Weihnachten ist dann, wenn ›Der Retter‹ wirklich kommt – und er nicht nur im Weihnachtslied besungen wird.«

Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 22. 12. 2019

pax christi Rhein-Main -> Moria